Vor 50 Jahren: Müntschemier - Hardheim - Rheinweiler

 

Hier eine etwas persönliche Geschichte, die sich im Sommer 1971 zugetragen hat, also vor 50 Jahren. Ich war damals 8 Jahre alt und konnte erstmals ohne Eltern in die Ferien. Die Reise ging zusammen mit meinem 14 Jahre alten Bruder Jürg nach Hardheim zur bekannten Familie S. Hardheim liegt ganz im Nordosten von Baden-Würtemberg:

Da wir zu klein waren, um alleine ins Ausland zu fahren, hat uns Gabi, die Tochter der Familie S. an unserem Wohnort Müntschemier abgeholt. Gabi war damals etwa 20 Jahre alt. An die Hinfahrt mit dem Zug habe ich noch ein paar Erinnerungen, insbesondere an die kurvenreiche Strecke nach Basel. In Rastatt ist Gabi schon aufgestanden, um ja nicht den Ausstieg in Karlsruhe zu verpassen. So mussten wir eine gute Viertelstunde im Gang stehen, bis wir aussteigen konnten. In Karlsruhe hat uns Vater S. mit dem Auto abgeholt und nach Hardheim gefahren. Vater S. war Bürgermeister von Hardheim und fuhr ein seinem Amt entsprechendes Auto, mit dem er auf der Autobahn mal eben auf 200 km/h beschleunigte. 

In Hardheim war vieles fremd und aufregend für mich: Das Hochdeutsch, das sich stark von unserem Dialekt unterscheidet. Die Nachbarskinder, die Bärbel und Ulrike hiessen, nicht Margrit und Marlies wie bei uns. ARD und ZDF in Farbe, nicht nur das Schweizer Programm in schwarzweiss. Amerikanische Soldaten, die auf der Strasse den deutschen Mädchen hinterherpfiffen (in Hardheim hat es eine grosse Kaserne) etc.

 

Wir machten auch ein paar Ausflüge mit dem Auto, ich kann mich an eine Fahrt nach Würzburg erinneren. Weiteres waren wir in Tauberbischofsheim und in Bad Mergentheim.

 

Hardheim war damals Endbahnhof einer Stichstrecke von Walldürn. Praktischerweise war die Strecke vom Wohnhaus der Familie S. sichtbar. Personenverkehr gab es nicht mehr, aber ein- oder zweimal täglich kam ein Güterzug vorbei. Manchmal wurde er mit einer Diesellok mit Mittelführerhaus geführt, manchmal aber auch mit einer Dampflok. Da wir uns dafür interessierten, ist Gabi S. mit uns zum Bahnhof gegangen und wir konnten die Manöver beobachten. Evtl. konnten wir sogar auf den Führerstand, ich bin mir nicht mehr ganz sicher.  Nachfolgend zwei Fotos vom Bahnhof Hardheim. Die Aufnahmen hat Bruder Jürg bei einem späteren Aufenthalt im Jahr 1973 gemacht, bei dem ich nicht dabei war:

 

Eine weitere Erinnerung ist ein Gespräch zwischen Vater S. und Gabi S. Es ging darum, dass man die beiden Jungs wieder zurück in die Schweiz bringen müsste, aber ob das nicht "zu gefährlich" sei mit dem Zug.  Ich stand nur zufällig daneben und habe nicht genau verstanden, was da so gefährlich sein sollte. Nun gilt das Jahr 1971 in der deutschen Eisenbahngeschichte als Unglücksjahr. Es ereigneten sich die Unfälle von Aitrang, Rheinweiler und Radevormwald.  An das Unglück von Aitrang kann ich mich noch erinnern, genau genommen an einen bebilderten Artikel in der Zeitung. Auch von Rheinweiler war mir etwas bekannt, etwa dass eine neue Lok 103 beteiligt war und auch Personen in Wohnhäusern zu Schaden gekommen sind. Das Unglück von Radevormwald war mir hingegen unbekannt, davon habe ich erstmals vor ein paar Jahren in einem Buch  gelesen. Heute ist natürlich alles im Internet und auf Youtube bestens dokumentiert.

 

Erst vor ca. 2 Jahren ist mir die nachfolgende Karte in die Finger geraten. Bruder Jürg hat sie, gut leserlich abgestempelt am 20. Juli 1971, nach Hause geschickt und schreibt unter anderem "Morgen nachmittag fahren wir wieder nach Karlsruhe und kommen dann über Heidelberg zurück". Aus einer Idee heraus habe ich dann im  Internet nachgeschaut, an welchem Tag sich das Unglück von Rheinweiler eigentlich ereignet hat. Es war genau "Morgen" , also am 21. Juli 1971!

Wie sind wir nach Hause gekommen? Ich weiss es nicht mehr. Wahrscheinlich werde ich das nie mehr herausfinden. Ich hatte eigentlich gemeint, ganz normal wie auf der Hinfahrt mit dem Zug, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Das Gespräch zwischen Gabi und ihrem Vater lässt vermuten, dass wir die Heimreise später als in der Karte geschrieben angetreten haben. Aber auch wenn wir normal über die Rheintalstrecke zurückfahren konnten, hätten wir ja in Rheinweiler noch etwas vom Unglück bemerken müssen. Fragen kann ich niemanden mehr. Die Eltern S. und meine Eltern, aber auch Gabi S. und Bruder Jürg sind alle bereits vor Jahrzehnten gestorben. Meine anderen Geschwister waren nicht dabei und können sich folglich nicht erinnern. Wie sind wir da bloss nach Hause gekommen?

 

S. Niklaus, 20.06.2021